Torben Rosenbohm

Freier Journalist aus Oldenburg

Wir brauchen mehr Listen

Nach der Auflistung meiner Lieblingsalben reizte es mich nun, auch meine persönlichen Favoriten unter den Büchern vorzustellen. Denn neben Basketball und Musik ist glücklicherweise auch das Lesen in meiner Zeitgestaltung vorne mit dabei – auch wenn der Berg an Ungelesenem fortschreitend bedrohliche Ausmaße annimmt …

Auch bei den Büchern gilt: Es ist (mit einer Ausnahme) keine Rangliste, und am Ende gibt es zusätzlich zu den zehn auf ihre Weise herausragenden Bänden noch einige Bonus-Tipps.

Alex Capus: Susanna (Hanser). Keine Rangliste? Eigentlich ist das so, und doch ist die Platzierung des Romans von Alex Capus (Foto oben: Mergime Nocaj) an dieser Stelle kein Zufall. „Susanna“ überstrahlt das, was ich hier empfehlen möchte und was eigentlich selbst ausreichend strahlt, noch einmal ein bisschen. Capus breitet die Geschichte von Susanna aus, die ihr Schicksal entschlossen in die Hand nimmt und am Ende sogar auf Sitting Bull trifft. In meiner Besprechung für die Nordwest-Zeitung zählte ich es „zu den stärksten des bisherigen Literaturjahres“ – und am Ende dieses Lesejahres lege ich mich fest: Für mich persönlich ist es das beste Buch in 2022.

Monika Helfer: Löwenherz (Hanser). Die österreichische Autorin hatte zuvor schon in „Die Bagage“ (2020) und „Vati“ (2021) aus Familiengeschichte große Literatur entstehen lassen, mit „Löwenherz“ ließ sie den dritten Teil dieser uneingeschränkt lesenswerten Reihe folgen. Mit viel Wärme, großer Sprachkunst und einem Blick für das Wesentliche nimmt sie die Leserschaft mit auf eine außergewöhnliche Entdeckungstour.

Stewart O’Nan: Ocean State (Rowohlt). Auf diesen US-amerikanischen Schriftsteller bin ich ursprünglich gestoßen, da ihn sein guter Freund Stephen King mit Nachdruck empfohlen hat. Der Hinweis vom Meister des Horrors hat sich als ungemein erfreulich herausgestellt, denn O’Nan liefert in schöner Regelmäßigkeit wunderbar komponierte Bücher, in deren Mittelpunkt oft die viel zitierten „normalen Leute“ und ihre Erlebnisse stehen. „Ocean State“ macht da keine Ausnahme und zeichnet in einer spannenden und intensiven Erzählung die tödlichen Folgen einer besonderen Dreiecksbeziehung nach.

Don Winslow: City on Fire (Harper Collins). Winslow hat sich spätestens mit seiner Trilogie aus „Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Jahre des Jägers“ unsterblich gemacht, jetzt startete er mit „City on Fire“ die nächste Reihe aus insgesamt drei Bänden. Wieder stehen kriminelle Machenschaften von verfeindet gegenüber stehenden Familien im Mittelpunkt, die sich trotz aller Frontstellung auf ein Stillhalteabkommen geeinigt haben – bis, ja bis die Dinge vollkommen aus dem Ruder laufen. Band zwei und drei folgen 2023 und 2024, danach ist in literarischer Hinsicht Schluss für Winslow; er wendet sich vom Bücherschreiben ab und widmet sich vermehrt politischem Engagement. Ein Verlust für die Leser seiner spannenden und klugen Werke …

Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf (Rowohlt). Es ist schon verblüffend, mit welcher Kontinuität sich Heinz Strunk als Schriftsteller in die richtige Richtung entwickelt hat. Angesichts seines enormen Schreibtempos wäre längst mal ein Aussetzer zu erwarten gewesen, doch der kommt – zum Glück – einfach nicht. „Ein Sommer in Niendorf“ zeichnet mit Verve einen bemerkenswerten Absturz nach, der sich am Ende gar nicht zwingend als solcher darstellt. Und das Tempo bleibt hoch: 2023 folgt ein Band mit Kurzgeschichten.

Max Annas: Morduntersuchungskommission – Der Fall Daniela Nitschke (Rowohlt). Der in Berlin lebende Autor Max Annas hat sich unter Fans seiner Schreibkunst längst einen guten Ruf erarbeitet, hätte aber nach wie vor ein noch deutlich größeres Publikum verdient. In seinen zumeist kurzen Romanen werden oft gesellschaftliche Zusammenhänge und historische Zeitengemälde dargereicht, vor deren Kulisse fein herausgearbeitete Charaktere im Mittelpunkt stehen. „Der Fall Daniela Nitschke“ ist der dritte Band der herausragenden „Morduntersuchungskommission“-Reihe. Es mag im Kern ein Krimi sein, doch sollte es unter denen, die solche Literatur verschmähen, nicht zur vorzeitigen Abwendung führen, denn: Max Annas ist ein wirklich toller Schriftsteller!

Jan Müller und Rasmus Engler: Vorglühen (Ullstein). Die beiden Musiker Jan Müller (Tocotronic) und Rasmus Engler (Herrenmagazin) haben mit ihren Bands längst bewiesen, dass sie zu den Besseren ihrer Zunft zählen. Mit ihrem literarischen Debüt, das sich – vereinfacht gesagt – um die Gründungszeit der Hamburger Schule dreht, zeigen sie nun, dass sie auch noch schreiben können. Ein vergnüglicher Roman über die Hansestadt, in dem grundsätzlich nicht viel passieren muss, um exzellent unterhalten zu werden.

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige (Dumont). Eltern, die ihre Kinder permanent ins Rampenlicht der vermeintlich sozialen Medien rücken und dabei mit allerlei Filtern und blumigen Formulierungen eine Realität vortäuschen, hinter deren gut verborgenen Kulissen das Gärende längst seine Arbeit erledigt: gefühlt eher Normalfall als Ausnahme. Delphine de Vigan hat aus diesem Szenario eine Geschichte gestaltet, die mit übergroßen Zeitsprüngen arbeitet und eine Gesellschaft in dauerhafter Aufmerksamkeitssucht zeigt.

Andreas Schäfer: Die Schuhe meines Vaters (Dumont). Der Autor Andreas Schäfer stellt in diesem Buch, das Teil der LiteraTour Nord 2022/2023 ist, seinen Vater in den Mittelpunkt – oder besser: das, was ihm an Erinnerungen an seinen Vater geblieben ist. Denn dieser liegt nach einer Untersuchung komatös im Krankenhausbett, und Schäfer muss darüber entscheiden, ob und wann die Maschinen abgestellt werden sollen. Was dieser sachlich-technische Vorgang mit einem anstellt, auch davon handelt dieser bemerkenswerte Band, in dem keine Zeile zu viel enthalten ist.

Dörte Hansen: Zur See (Penguin Random House). Die spätberufene Autorin hatte schon mit „Altes Land“ und „Mittagsstunde“ zwei fast unglaublich erfolgreiche Romane vorgelegt; keine Frage, dass auch „Zur See“ dieses Verkaufslevel erreichen wird. Das alles mit Recht, denn Hansen schreibt einfach gut und versteht es, vermeintliche Unterhaltungsliteratur auch für jene zu schaffen, die von diesem Genre eher Abstand nehmen. Die Geschichte über eine Insel-Familie, deren Lebenswerk von den Launen der Natur abhängig ist, bleibt auf jeder Seite lesenswert.


Zusätzlich zu den zehn Lieblingsbüchern dieses literarischen Jahres noch ein paar zusätzliche Titel, die es zwar nicht unter die Top Ten geschafft haben, aber dennoch empfehlenswert sind (okay, das letzte Buch in der folgenden Liste könnte den einen oder die andere aus dem Konzept bringen):

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher (Hanser)

Jakob Hein: Der Hypnotiseur oder nie so glücklich wie im Reich der Gedanken (Galiani Berlin)

Yasmina Reza: Serge (Hanser)

Amélie Nothomb: Ambivalenz (Diogenes)

Matthijs Deen: Der Holländer (mare)

Stephen King: Fairy Tale (Heyne)

Castle Freeman: Ein Mann mit Talenten (Hanser)

Helene Bukowski: Die Kriegerin (Blumenbar)

Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren (Dumont)

Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger) (s. Fischer)