Torben Rosenbohm

Freier Journalist aus Oldenburg

Flucht in die Bundesliga

Fast sieben Jahre war Mladen Drijencic Headcoach der EWE Baskets Oldenburg, Anfang 2022 endete seine Amtszeit. Sein Name tauchte zuletzt immer mal wieder auf, wenn Clubs aus der easyCredit BBL auf der Suche nach einem neuen Trainer waren. Jetzt ist es tatsächlich soweit: Nach der Trennung von Lars Masell übernimmt Drijencic das Team von medi bayreuth und soll mit dem Tabellenletzten eine Aufholjagd einläuten, um doch noch den Klassenerhalt zu erreichen.

Aus ganz persönlicher Sicht muss ich sagen: Toll, dass er wieder da ist! Mladen lebt Basketball, an jedem Tag, in jeder Minute. Die Ausgangslage in Bayreuth ist alles andere als einfach, aber mit seiner Begeisterungsfähigkeit wird er ganz gewiss neue Kräfte wecken können.

Auch, wenn der folgende Artikel aus dem Jahr 2015, den ich für das Magazin „FIVE“ geschrieben habe, schon ein wenig Staub angesetzt hat, bleibt die Geschichte von Drijencic, die ihn bis in die Bundesliga geführt hat, bemerkenswert.


Flucht in die Bundesliga (FIVE #122, 2015)

Im März 1998 ist der Name Drijencic weit entfernt von einem Eintrag in die deutschen Basketball-Geschichtsbücher. Während ALBA BERLIN dem zweiten Titel entgegenstrebt, der junge Dirk Nowitzki mit DJK Würzburg um den Aufstieg ins Oberhaus kämpft und der BC Oldenburg-Westerstede etwas später genau daran scheitert, steht die Familie aus dem längst nicht mehr existenten Jugoslawien vor großer Ungewissheit. Statt Basketball-Taktik regieren Paragraphen, statt Aufstieg droht die Abschiebung. Der amtliche Tenor: Wenn Frau und Kind ausreisen, darf Mladen Drijencic noch maximal sechs Monate im Land bleiben. „Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz bricht“, erinnert sich der heute 50-Jährige an den Moment, als er seine Familie an einem Samstag zur Grenze bringt – und sich von ihr verabschiedet. „Unsere Hoffnung, dass sich die Sache noch anders lösen lässt? Null.“

Im April 2015, fast genau 17 Jahre später, steht Mladen Drijencic auf dem Parkett der EWE ARENA, herzt verschwitzte Körper, fällt einem nach dem anderen in die Arme und landet schließlich in der liebevollen Umklammerung von Hermann Schüller. Der geschäftsführende Gesellschafter der EWE Baskets, die soeben erstmals den deutschen Pokal für sich entschieden haben, hatte nach dem misslungenen Aufstiegsversuch 1998 erst recht Appetit bekommen auf mehr – und gibt Drijencic im Moment des Erfolgs eine Job-Garantie für die Saison 2015/2016. „Ein unglaublicher Moment“, gibt Drijencic zu. „Ich habe kurz zuvor vor 200 Zuschauern das Oldenburger ProB-Team gecoacht, jetzt war ich Pokalsieger.“

Mladen Drijencic, 1965 im bosnischen Vares 50 Kilometer nördlich von Sarajevo zur Welt gekommen, wurde als mittleres Kind in eine Arbeiterfamilie hinein geboren, in der Bescheidenheit und Fleiß gleichermaßen groß geschrieben wurden. „Ich war das einzige Kind, das immer einen Ball dabei hatte“, erinnert er sich an seine ersten Kontakte mit dem Sport. Mit Basketball hatte er zunächst nichts zu tun, er spielte Fußball, gerne als Torwart. Später Schach. Schach? „Mit 14 Jahren hat mich ein Freund mitgenommen und ich habe es mal ausprobiert. Unfassbar: Ich landete auf Platz 16 bei der bosnischen Schachmeisterschaft.“ Der Schachclub sei schlicht eine gute Alternative gewesen, um nicht zuhause zu sein; dort hatte schließlich keiner ein eigenes Zimmer.

Die Familie lebte in der Nähe eines Freibads. Dort spielten Mladen Drijencic und seine Freunde im Winter Fußball, wenn an Schwimmen nicht zu denken war. „Irgendwann haben wir einfach einen Korb montiert und Basketball ausprobiert. Wir haben uns viel selbst beigebracht.“ Im Sommer trafen sich die Vereinsspieler – und baten ihn eines Tages auszuhelfen. Mladen Drijencic ließ sich nicht lange bitten, spielte mit und verdiente sich einigen Respekt. Die Einladung zum Training ließ nicht lange auf sich warten, schließlich wurde er in den Kader aufgenommen. „Gar nicht so leicht, da stets mit kleiner Rotation gespielt wurde.“ Um besser zu werden, übte er zuhause weiter – „auf einem zwei mal zwei Meter großen Feld. Jeden Tag, im Sommer und im Winter. Wenn meine Finger einzufrieren drohten, bin ich schnell rein und habe mich im einzig beheizten Raum aufgewärmt. Dann ging es direkt weiter.“

Ein Sportlehrer entdeckte sein besonderes Talent – und gab einen Einblick in das, was weltweit seit jeher als besondere Basketball-Schule Anerkennung besitzt. „Es ist schon speziell“, gibt Drijencic zu. Der Sportlehrer zeigte ihm eine Übung, ging fort und kam erst nach 20 Minuten wieder. „Ich war natürlich noch immer mitten in der Übung. Wenn ich was anderes gemacht hätte, wäre er nie wiedergekommen.“ Wurf um Wurf, Dribbling um Dribbling: Mladen Drijencic arbeitete wie besessen. Er lieh sich Lehrbücher aus der Schulbibliothek, saugte jede Zeile auf, trainierte mit Bleigewichten an den Schuhen. „Aus einfachsten Mitteln das Optimum herausholen“, nennt er heute das, was ihn damals – und in der Folgezeit – antrieb. 1984 machte er seinen Schulabschluss, danach ging es zum Militär; eingesetzt wurde er im slowenisch-ungarischen Grenzgebiet. Ab 1985 studierte er Maschinenbau, unter der Woche wohnte er in Sarajevo, am Wochenende war er für KK Vares aktiv. Seiner damaligen Freundin Zeljka, mit der er heute längst verheiratet ist, schickte er nach den Spielen Postkarten mit kleinen Spielberichten und dem Ergebnis.

Doch Spiele, Training und Studium rückten mehr und mehr in den Hintergrund. Unruhen 1991, weitere Eskalation 1992 (Drijencic: „Schon im April kam man nicht mehr nach Sarajevo“) und schließlich der Krieg: Das nackte Überleben der frisch Vermählten stellte alles andere in den Schatten. Seine Frau floh zuerst, Mladen Drijencic folgte, vier Monate lang kamen sie bei Freunden unter. Die Erlösung: Onkel und Tante aus Krefeld ermöglichten die Ausreise nach Deutschland, am 28. April 1994 saßen sie im Einwohnermeldeamt. Paragraphen und Formalitäten waren an diesem Tag ein Segen. Von nun an ging es bergauf. „Basketball hat mir geholfen“, so Drijencic, der nach nur wenigen Tagen ein Probetraining beim BBC Krefeld absolvierte.

Vier Jahre lang lief alles nach Wunsch. Zwar musste er sich zunächst als Möbelpacker mit unsicherem Einkommen verdingen, aber auch das nahm Drijencic sportlich: „Gutes Krafttraining“, blickt er lachend zurück. Als Trainer von Jugendmannschaften und später des zweiten Teams kam er Schritt für Schritt mit der Arbeit an der Seitenlinie in Berührung. Trainer-C-Lizenz, Sportwart im Verein, Geburt von Sohn Robert im April 1996 – die Ausgangslage war großartig. Bis das Ausländeramt in die Geschichte eingriff und im März 1998 jene Regelung aufzeigte, die der Familie „eine schlimme, fordernde und belastende Zeit“ bescherte, wie sich Mladen Drijencic ungern erinnert. Wer ihn nicht genauer kennt: Man muss ihn sich als stets strahlend und lebensfroh vorstellen, immer wissbegierig, immer offen – doch die Erinnerung an jene Phase lässt auch 17 Jahre später tiefe Falten im Gesicht erscheinen.

Eine glückliche Fügung aber machte eine Lösung möglich. Bayer 05 Uerdingen wollte eine Basketballsparte gründen, eine Fusion mit dem BBC Krefeld wurde vorgeschlagen. Hauptamtlicher Basketballtrainer: Mladen Drijencic. Er bekam ein Arbeitsvisum, seine Familie durfte zunächst immer nur phasenweise zu Besuch kommen. Am 20. Dezember 1999 die Erlösung: Ein Visum für beide und eine Zukunft in Deutschland. Bis 2002 war er noch selber als Spieler aktiv, danach nur noch als Trainer – und „Mädchen für alles“ im Verein. Seine Frau erinnert sich: „Unsere Kinder müssen irgendwann gedacht haben, wir heißen Uerdingen.“ Das Telefon daheim war gleichzeitig Anschluss des Vereins. Die Drijencics waren die Keimzelle von Bayer 05 Uerdingen, die Abteilung wuchs unaufhaltsam, jeder Tag stand voll und ganz im Zeichen des Basketballs.

2010 kam ein Anruf aus Oldenburg. „Es war keine leichte Entscheidung, Krefeld zu verlassen. Aber ein Besuch in Oldenburg, der Blick in die Trainingshalle, das Gespräch mit den Verantwortlichen: Ich wusste, das ist der nächste Schritt für meine Familie und mich.“ Mladen Drijencic muss sich an ein neues Niveau gewöhnen, das Team aus der Regionalliga sollte vorangebracht werden. „Wir verpassten den Aufstieg knapp“, blickt er auf seine ersten beiden Saisons zurück. „Doch 2012 war es soweit.“ Im selben Jahr schnupperte Drijencic erstmals Bundesliga-Luft; als Predrag Krunic beurlaubt wurde, übernahm Ralph Held – mit Drijencic als Assistent. 2012/2013 erreichte die ProB-Mannschaft die Playoffs, 2013/2014 sogar die Meisterschaft. Eine Sensation in Anbetracht des Kaders. „Ein Team, das gut funktioniert, kann alles erreichen“, betont er. 2015 war er mit der Drittliga-Vertretung Oldenburgs wieder auf Kurs, als im Bundesliga-Team haarsträubende Ergebnisse für Unruhe sorgten. Befasste sich Drijencic in dieser Phase mit dem Gedanken, als interne Lösung in der Bundesliga gefordert zu sein? „Nicht aktiv“, erläutert er nach kurzem Überlegen. „Ich gebe zu, ab und an daran gedacht zu haben, ob ich mir dieses Niveau nicht auch zutrauen würde. Aber der Anruf von Hermann Schüller kam letztlich doch überraschend.“

Er telefonierte mit dem Club-Chef, traf sich abends mit ihm und unterschrieb bis zum Saisonende. „Das Modell Viktor Skripnik“, nennt es Drijencic. Der Coach der zweiten Mannschaft wurde befördert zum Coach der ersten – und hauchte, dem Vorbild des Fußballvereins von der Weser folgend, einem ganzen Club neues Leben ein. Die Stimmung in Oldenburg war zu diesem Zeitpunkt nicht nur gedrückt, sie war am Boden. Die Profis hatten desaströse Auftritte auf das Parkett gelegt, eine 20-Punkte-Niederlage gegen den Tabellenletzten aus Trier, dessen Spieler seit Monaten kein Geld gesehen hatten, brachte das Fass zum Überlaufen. Drijencics erster Auftritt als Bundesliga-Trainer: Ein Derbysieg gegen die Artland Dragons. Zwar endete die Hauptrunde später auf Platz sieben, wurde das Playoff-Viertelfinale mit reihenweise Verletzten 0:3 gegen ALBA BERLIN verloren – doch die Stimmung hatte sich gedreht. Wohl noch nie ist eine Mannschaft der EWE Baskets nach einer Niederlage so von den Zuschauern beklatscht worden wie nach Spiel zwei in den Playoffs.

Der Tiefpunkt 1998, der (vorläufige) Höhepunkt 2015 – Mladen Drijencic kann vieles von dem, was in den letzten 17 Jahren passiert ist, noch immer nicht vollständig begreifen. „Mich haben so viele Menschen aus meiner Heimat angerufen, als wir Pokalsieger geworden sind. Das war wundervoll.“ Im Juli 2015 gilt der Fokus dem Blick in die Zukunft. Mladen Drijencic hat einen Vertrag für die Saison 2015/2016 unterzeichnet, er muss das Team umgestalten. Verjüngung, Athletik, etwas weniger Etat – die Herausforderungen sind keine kleinen. Der Trainer mit so viel Leidenschaft in sich aber hat schon ganz andere Hürden überwunden. Den Namen Drijencic, den wird man in Oldenburg so schnell nicht mehr vergessen.


Alle Bilder: Ulf Duda / fotoduda.de