Als Rickey Paulding im Juni 2022 mit großen Emotionen aus Oldenburg verabschiedet wurde, war auch dem letzten Fan der EWE Baskets klar: Hier endet eine Ära. Nach 15 Jahren im Trikot der Niedersachsen zogen der Kapitän und seine Familie zurück in die USA.
Vorhang auf für etwas Neues hieß es folgerichtig, und die Verantwortlichen um Geschäftsführer Hermann Schüller und den sportlichen Leiter Srdjan Klaric machten sich an die Arbeit. Wobei: Die Weichen für einige Entscheidungen waren gewiss längst gestellt. Ein neues Trainergespann, sieben neue Spieler zum Saisonstart – das Abenteuer Neuanfang konnte beginnen nach der auf Platz elf beendeten Spielzeit 2021/2022.
34 Bundesliga-Spieltage und ein TOP FOUR später lesen sich die Zwischenresultate aus Oldenburger Sicht erfreulich: Im Pokal erreichten die EWE Baskets das Finale, in der easyCredit Basketball Bundesliga reichten 22 Saisonsiege für Platz vier.
Insgesamt kamen dabei 16 Spieler zum Einsatz. Einer (Joel Harms) war nur bei einem Spiel dabei, einer (Bennet Hundt) verließ den Club vorzeitig, drei (Rihards Lomazs, Shakur Juiston und Hassani Gravett) wurden im laufenden Betrieb nachverpflichtet, zwei sind über das Saisonende hinaus verletzt (Alen Pjanic, Lomazs) – und einer (DeWayne Russell) überstrahlte alle anderen.
Passend zur kurzen Pause zwischen dem letzten regulären Saisonspiel, das gegen den um sieben Spieler und den Headcoach dezimierten FC Bayern München zur klaren Angelegenheit geriet, und dem ersten Playoffspiel gegen die MHP RIESEN Ludwigsburg (16. Mai) ist es an der Zeit für einen intensiveren Blick auf das, was die Spieler geboten haben. Vorweg: Das war eine ganze Menge.
Die Guards
Mit der Verpflichtung von DeWayne Russell ist den Oldenburgern gleich in mehrfacher Hinsicht ein Glücksgriff gelungen. Wobei: Die Verantwortlichen haben sich bei seiner Rekrutierung gewiss nicht auf das Glück verlassen, sondern sehr gute Gründe gehabt, ihm die zentrale Position im Kader zu übertragen. Russell, der schon von 2018 bis 2020 in Crailsheim Bundesliga-Erfahrungen gesammelt hatte, erwies sich von Saisonbeginn an als echter Denker und Lenker, der nicht nur überaus verlässlich Punkte erzielt, sondern auch geschickt Regie führt, das Tempo bestimmt und mit überdurchschnittlicher Präzision seine Mitspieler in guten Positionen aufspürt. 20,3 Punkte und 7,7 Assists pro Partie in der Liga machten ihn zum Topscorer der BBL. Einzig seine Dreierquote (34,7 Prozent) wirkt noch dezent ausbaufähig. Nicht auszudenken, dass sich Russell in den Playoffs verletzt, denn ersetzbar ist er nicht. Wenngleich …
… der nachverpflichtete Hassani Gravett durchaus schon Spiele gezeigt hat, in denen er auf sehr gutem Niveau unterwegs war. Auf der anderen Seite waren aber auch Auftritte dabei, in denen er zu unauffällig blieb oder sein Wurf zu inkonstant war. Dennoch: Gravett darf als gute Nachverpflichtung verstanden werden. Leidtragender seines Wechsels nach Oldenburg war (und ist zumeist noch immer) …
… MaCio Teague. Der US-Amerikaner war immerhin mit der Empfehlung einer gewonnenen College-Meisterschaft nach Oldenburg gekommen. Von Saisonbeginn an aber beschlich viele bei der Betrachtung seiner Darbietungen das Gefühl, dass er in seinem ersten Profijahr abseits der Heimat große Probleme mit dem Spielsystem der Oldenburger hat. Viele Fehler, Nervositäten im Ballvortrag: Teague hatte sichtbar zu kämpfen, entsprechend justierten die Verantwortlichen erst mit Rihards Lomazs, später mit Gravett nach. Allerdings: Wie sich der 25-Jährige trotz seiner vielen Nicht-Aufstellungen präsentiert, ist überaus löblich. Teague ist mit vollem Herzen dabei – und zeigt immer dann, wenn er zurück in den Kader rutscht, engagierte Vorstellungen. Zuletzt gegen den FC Bayern erzielte er 16 Punkte (und versenkte dabei sechs seiner acht Versuche aus dem Feld). Er könnte sich in der entscheidenden Saisonphase bei etwaigen Ausfällen noch als überaus wertvoll erweisen.
Vorschusslorbeeren brachte auch Maximilian „Max“ DiLeo mit nach Oldenburg. Zwar nicht in Form von Titeln wie bei Teague, sehr wohl aber aufgrund seiner Arbeitsauffassung. Sein Motto: Vollgas, vor allem in der Verteidigung. DiLeo verrichtet sein defensives Tagwerk mit unglaublicher Leidenschaft. Das hat gleich mehrere Effekte: Es raubt dem Gegenüber den Spaß (und gelegentlich die Nerven), er reißt die Kollegen mit und führt in wichtigen Momenten zu Stimmungseruptionen auf den Tribünen. Gelegentlich macht es aber auch den Anschein, dass DiLeo die Grenzen fast überreizt – nicht selten wird er unter Schnappatmung ausgewechselt. Vielleicht ist es auch der enormen Anstrengung geschuldet, dass ihm in der Offensive gelegentlich das ruhige Händchen fehlt.
In der ersten Saisonhälfte gehörte derweil Kenneth „Kenny“ Ogbe zu den wenigen Spielern, bei denen die Fans kleine Fragezeichen mit sich herumtrugen. Der zuvor bereits in der A-Nationalmannschaft eingesetzte Ex-Bamberger, der auch als Forward spielt, erweckte phasenweise den Anschein, irgendeine Art von Impuls zu benötigen, um leistungsmäßig aus sich herauszukommen. Dann verletzte er sich und musste längere Zeit zuschauen. Als er zurückkam, war einiges anders: Ogbe ist inzwischen ein elementarer Bestandteil der Rotation – passend zum Ausfall von Alen Pjanic kommt ihm eine größere Verantwortung zu, die er offenbar selbstbewusst annimmt. Der 28-Jährige könnte sich zum X-Faktor in den Playoffs entwickeln.
Während Youngster Fritz Hemschemeier nach seinen bisher nur sechs Kurzeinsätzen nicht seriös bewertet werden kann, fällt (fast) zu guter Letzt noch der Blick auf Rihards Lomazs. Der Lette war nachverpflichtet worden, um die Guard-Positionen zu stabilisieren, und es wäre eine Freude gewesen, ihm länger bei der Arbeit zuzuschauen. Ein Kreuzbandriss machte allerdings einen Strich durch die Rechnung, und so wird er mutmaßlich auch die Basketball-Weltmeisterschaft verpassen. Lomazs spielte in der lettischen Nationalmannschaft, die mit ihm im Kader für viel Furore gesorgt hatte, bis zu seinem verletzungsbedingten Ausscheiden eine zentrale Rolle. Indes: Nach seiner eigentlich famosen Dreier-Qualität suchte er in Oldenburg in elf BBL-Spielen vergeblich (28,2 Prozent Wurfquote).
Einen gibt – oder besser: gab – es allerdings noch: Bennet Hundt. Der Point Guard, der zuvor unter anderem in Göttingen und Bamberg mit guten Leistungen auf sich aufmerksam gemacht hatte, ging im Sommer in Oldenburg in seine zweite Saison im Trikot der EWE Baskets. Unter dem Strich wirkte es, als sei er nie gänzlich hier angekommen, zumal die Fans ihm zuweilen hörbar mit einer gewissen Skepsis begegneten. Als Konsequenz einigten sich die Parteien auf eine Vertragsauflösung, Hundt wechselte nach elf BBL-Spielen noch während der Hinrunde in Richtung Heidelberg.
Die Forwards
Mit den Positionen ist es ja im modernen Basketball so eine Sache, die Grenzen sind zunehmend fließend. Beim Blick auf die Forwards sei mit Trey Drechsel begonnen, der variabel genug ist, auch als Guard zu agieren. Er zählte im vergangenen Sommer zu den sieben Neuzugängen der EWE Baskets Oldenburg, die Club-Verantwortlichen zahlten sogar eine Ablöse an Partizan Belgrad, um ihn nach Oldenburg zu holen. Eine nachvollziehbare Investition, denn an guten Tagen avanciert er zum besten Mann an der Seite von DeWayne Russell, trifft verlässlich von außen, zieht energisch zum Korb und verteidigt engagiert. An schlechten Tagen fehlen Präzision und die Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Gute aus Sicht der Oldenburger: Die schlechten Tage sind die Ausnahme. Der 26-Jährige zählt außerdem zu den Spielern, die ihre beste Phase noch vor sich haben dürften. Das gilt auch für …
… Alen Pjanic. Der Ex-Gießener hat sich zu einem der Publikumslieblinge gemausert. Das liegt nicht nur an seiner Fähigkeit, Punkte und Rebounds für den Teamerfolg zu sammeln, sondern auch an seiner zuweilen spektakulären Art, mit Dunkings für Emotionen zu sorgen, und an seiner spürbaren Leidenschaft für das, was er auf dem Parkett leistet. Mit größtem Einsatz ging er auch beim Auswärtsspiel in Chemnitz zur Sache, doch ein Blockversuch endete für ihn mit einem krachenden Einschlag auf dem Boden. Resultat: eine Fraktur und das Saisonende. Pjanic ist in jeder Hinsicht ein schmerzhafter Ausfall für die ambitionierten Oldenburger und hätte dem Team in einer physisch herausfordernden Serie gegen Ludwigsburg sehr gut zu Gesicht gestanden. Gute Besserung auf diesem Wege!
Bei TJ Holyfield ist man noch immer geneigt, von Licht und Schatten zu sprechen, denn der 27-Jährige tendiert gelegentlich zu unerklärlichen Kurzzeit-Aussetzern im Spiel. Dann wiederum folgen ausgezeichnete Auftritte, die das Gesamturteil gar nicht so einfach machen. Was bei Holyfield allerdings auffällt: Er ist mit vollem Herzen bei der Sache und zeigte im Saisonendspurt zwei gute Spiele gegen den MBC und den FC Bayern München. Insgesamt ist zu mutmaßen, dass er mit Blick auf den Kader der kommenden Saison zu den Wackelkandidaten gehört. Das wiederum gilt keinesfalls für …
… Tanner Leissner. Der Ex-Ludwigsburger mag statistisch nicht zu denen zählen, auf die sich der Blick zuerst richtet. Seine Präsenz und Spielintelligenz aber verändern das Spiel – und machen die Oldenburger schlicht besser. Als er verletzt ausfiel, verloren die EWE Baskets viermal am Stück. Als er zurückkehrte, folgten drei Siege. Zufall? Sicher nicht! Leissner verrichtet viele Dinge, die in den nackten Zahlen nicht unmittelbar nachweisbar sind. Er erinnert ein wenig an den ehemaligen Oldenburger Marko Scekic, der kein Topscorer und eine eher unscheinbare Erscheinung gewesen sein mag, ohne den die Deutsche Meisterschaft 2009 aber wohl nicht denkbar gewesen wäre.
Eine undankbare Rolle bekleidet Shakur Juiston. Er war im Februar nachverpflichtet worden, wohl auch, um ein wenig Druck auszuüben auf die lange Garde, die zumindest in Teilen (Owen Klassen, TJ Holyfield) zu einem latenten Auf und Ab neigt(e). Juiston kam bislang nur in acht BBL-Spielen und beim TOP FOUR zum Einsatz und nimmt zumeist am Rande der Bande Platz. Seinen Part als klassischer Ergänzungsspieler wird er bis zum Saisonende akzeptieren müssen, einzig verletzungsbedingte Ausfälle bei den Big Men könnten ihm noch weitere Spielminuten bescheren.
Die Center
Klassische Center gibt es im Oldenburger Kader nur zwei. Spannend ist, dass der 23-jährige Norris Agbakoko in der laufenden Saison häufiger in der Starting Five stand (20-mal) als Routinier Owen Klassen (12-mal). Agbakoko spielt seit einigen Jahren in Oldenburg, und das alles erweckte zunehmend den Anschein, dass der Durchbruch wohl ausbleiben könnte. Seit Mitte April allerdings hat sich das Blatt gewendet. Norris Agbakoko präsentiert sich als echter Bundesliga-Spieler! Er agiert mit deutlich mehr Selbstbewusstsein auf dem Parkett und erzielte zuletzt Karriere-Bestwerte bei Punkten und Rebounds. Was auch immer diesen Schub ausgelöst haben mag: Dem jungen Center ist zu wünschen, dass die Entwicklung anhält (und auch, dass er von weiteren Verletzungen verschont bleiben mag). Sein Big-Men-Kollege …
… Owen Klassen wiederum steht in dieser Saison vor einer echten Premiere: Der Kanadier hat trotz einiger vorangegangener Stationen in der easyCredit BBL noch kein Playoffspiel absolviert. Gegen seinen Ex-Club MHP RIESEN Ludwigsburg wird es darauf ankommen, dass Klassen seine unbestrittenen Qualitäten (Abschlüsse am Korb, Physis) bestmöglich einsetzt und seine zuweilen enorme Foulproblematik in den Griff bekommt (oder besser: minimiert). Im Grunde könnte man es dem 31-Jährigen zugutehalten, dass er ohne Rücksicht auf die eigene Spielzeit resolut zu Werke geht; eine möglichst über 40 Minuten lang verfügbare lange Garde allerdings ist von sehr hohem Wert. Zu dieser zählt nominell natürlich auch noch Joel Harms, der 20-jährige Youngster kam 2022/2023 aber bislang nur zu einem 67-sekündigen Auftritt gegen den SYNTAINICS MBC.
Fazit: Der Kader, der vor Saisonbeginn durchaus mit einer Prise Skepsis betrachtet worden war, hat das erste Jahr nach der Ära Paulding sehr gut gestaltet. Ärgerliche Verletzungen, die stets komplizierte Integration von Neuzugängen und gelegentliche individuelle Aussetzer gehörten allerdings auch zum Gesamtbild. In den Playoffs dürfte nun ein großer Vorteil sein, dass Trainer Pedro Calles und seine Assistenten ein echtes Team ins Rennen schicken. Es mag offensiv zuweilen haken, dafür stimmen Einsatz und Leidenschaft fast ausnahmslos – und eben das honorieren die Fans nachhaltig. Eben damit haben die Spieler nach der merkwürdigen Vorsaison schon eine ganze Menge erreicht.